Das Leben mit der Sucht – Essstörungen erkennen und behandeln
16. Februar 2022
Ein Bericht von Laura Vagliani Ernährungsberaterin BSc. BFH
Arten von Essstörungen
Hungern und Fressen. Selbstkontrolle und Ohnmacht. Wechselbäder der Gefühle. Es sind Extreme, die Essstörungen charakterisieren und Betroffene teils Jahrzehnte lang begleiten. Essstörungen betreffen rund 3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Von den drei klar definierten Formen ist die Binge-Eating-Störung die häufigste, gefolgt von der Bulimie und der Magersucht. Oft treten Essstörungen als Mischformen auf. Bei der Binge-Eating-Störung kommt es zu regelmässig auftretenden Essanfällen. Betroffene nehmen in kurzer Zeit grosse Nahrungsmengen zu sich und verlieren die Kontrolle über ihr Essverhalten. Daher der Begriff „binge“, der so viel bedeutet wie „Gelage“. Die Bulimie wird auch Ess-Brechsucht genannt. Nach anfallartigen Heisshungerattacken versuchen die Betroffenen die aufgenommene Nahrung zu erbrechen. Magersüchtige hingegen essen so wenig wie möglich und meiden vor allem Lebensmittel mit viel Fett und Kohlenhydraten. Viele entwickeln bestimmte Essrituale, zum Beispiel essen sie extrem langsam und schneiden ihre Nahrung in kleinste Stücke. Daneben gibt es die Orthorexie. Sie ist keine anerkannte Essstörung, aber eine krankheitswertige Störung bei der sich die Betroffenen zwanghaft mit vermeintlich gesundem Essen beschäftigen. Lustvolles Essen tritt bei Ihnen völlig in den Hintergrund. Betroffene stellen sich teils bizarre Regeln auf, was sie als gesund ansehen. Orthorektisches Essverhalten führt häufig zum Beginn einer Essstörung oder tritt nach einer behandelten Essstörung auf. In jedem Fall belastet auch diese Form des Essverhaltens den Betroffenen stark in seinem Alltag.
Anzeichen und Behandlung von Essstörungen
Ob jemand an einer Essstörung leidet, müssen vor allem Ärzte und Psychotherapeuten bewerten. Indikatoren, die für eine Essstörung sprechen, sind: Probleme mit dem Essverhalten, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Sorgen ums Gewicht und sozialer Rückzug. Die Belastungen sind für Betroffene meist so stark, dass sie in ihrer Lebensqualität sehr eingeschränkt sind. Eine oder mehrere Therapien und ein offener Umgang sind bei Essstörungen immer anzuraten. Sie sind gesundheits- und lebensbedrohliche psychische Erkrankungen, aus der die Betroffenen ohne professionelle Hilfe selten allein herausfinden. Eine Psychotherapie und ergänzende Behandlungen wie die Ernährungsberatung können den Betroffenen viel Leid wie Einsamkeit und Hilflosigkeit ersparen.
Wie hilft die Ernährungsberatung bei Essstörungen?
Essstörungen können zu starken Gewichtsveränderungen, einer Fehlernährung und einer reduzierten Lebensqualität sowie psychischen Verstimmungen wie Angst und Depression führen. Der Inhalt einer Ernährungsberatung für Essgestörte ist daher sehr individuell auf die persönliche Situation angepasst. Ein Ernährungsberater unterstützt dabei, den normalen Umgang mit Nahrung wieder zu erlernen und die Angst vor Lebensmitteln zu verlieren. Zudem wird viel an der emotionalen Verbindung zum Essen gearbeitet. So kommen mit der Zeit Gefühle wie Hunger und Sättigung wieder zur Geltung und ermöglichen eine neue Wahrnehmung. Es wird behutsam und im eigenen Tempo der Weg zu einer geregelten Mahlzeitenstruktur aufgebaut. Viele Essgestörte sind zu Beginn einer Therapie überfordert und haben grosse Angst vor einer Gewichtsveränderung. Wichtig ist für sie das Vertrauen, dass in einer Ernährungstherapie nichts geschieht, was nicht gemeinsam besprochen und als Ziel festgelegt wurde. Durch die Komplexität der Thematik wird klar, dass der Erfolg der Therapie nicht in jedem Fall von einer Gewichtsveränderung abhängig ist. Entscheidend ist das Loslösen von einem rigiden und kontrollierten Essverhalten resp. dem Verabschieden von extremen Kontrollverlusten zugunsten eines flexibleren und emotional nicht Belastendem Essverhalten. Anerkannte Ernährungsberatungen werden von der Grundversicherung teilweise oder ganz bezahlt und können direkt über die Ernährungsberatung selbständig gestartet werden.
Den Teufelskreislauf durchbrechen
Essstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im Erwachsenenalter. Erste Studien deuten darauf hin, dass die Zahl der Essgestörten in der COVID-19 Pandemie zugenommen hat. Essgestörte, die den Hintergrund Ihrer Erkrankung aufschlüsseln möchten, wissen oft nicht, was genau das gestörte Verhältnis zum Essen ausgelöst hat. Meist spielen viele Faktoren eine Rolle, warum sich Essstörungen sehr schleichend bei Frauen und Männern entwickelt. Für alle Betroffenen gilt: die Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit und der Wunsch zum angstfreien Essen sind erste wichtige Schritte zur Genesung und die Voraussetzung für jede erfolgreiche Therapie. Um zurück ins Leben zu finden und raus aus dem Teufelskreislauf der Extreme zu kommen.
Leserfrage
Meine Tochter leidet an Magersucht. Ihr Psychotherapeut rät zu einer Ernährungsberatung. Wie muss sie sich den Ablauf vorstellen? (Ingrid Neumann, 42 Jahre)
Liebe Frau Neumann
Zuerst führe ich eine Anamnese durch und investiere gerne Zeit, um einen Raum zu schaffen, wo sich Betroffene sicher und wahrgenommen fühlen. Ich schaue mir medizinische Daten an, führe Gespräche und versuche zu verstehen, was die individuellen Bedürfnisse sind. Gerne visualisiere ich für gemeinsam festgelegte Ziele den möglichen Weg und zeige erste Schwerpunkte auf wie z.B. Erkennen der Zusammenhänge zwischen Emotionen und Essverhalten und Erarbeiten alternativer Verhaltensweisen. Wenn das Ziel eines normalisierten Essverhaltens erreicht ist und Betroffene lernen, wieder auf ihre Körperwahrnehmungen zu vertrauen, unterstütze ich Sie dabei, eine nachhaltig achtsame und intuitive Ernährung zu entwickeln und die Freude am Essen wiederzuerlangen.